»Der letzte gute Tag« – Leseprobe

Kapitel 1

Bevor ich das Haus betrete, klopfe ich die Asche von den Kleidern. Es ist nach alter Zeitrechnung vermutlich zwei Uhr nachmittags. Und dämmrig. Wirklich hell wird es tagsüber nicht mehr. Die Tage werden dominiert von einem trüben Grau, das nicht nur das Licht, sondern auch die Farben der Welt verschluckt. Je nach Jahreszeit – wenn man an diesem altmodischen Denken festhalten will – ist das graue Dämmerlicht heller und damit erträglicher. Das wird vermutlich im Sommer sein. Aber davon sind wir weit entfernt. Die Nächte sind sternenlos. Unendlich. Tiefschwarz. Doch wenn das Endzeitleuchten den Himmel erhellt, verdrängt das Grau für Sekunden sogar die allumfassende Schwärze.
Ich stemme mich gegen die Eingangstür des Vierfamilienhauses. Sie ist verzogen und es macht Mühe, sie zu öffnen. Niemand könnte das Haus unbemerkt betreten, denn das Öffnen entlockt dem Holz einen lauten Schrei. Zumindest klingt das Geräusch – eine Mischung aus Quietschen und Knarren – wie der gequälte Aufschrei einer Katze. Die Haustür lässt sich nicht abschließen, gleichzeitig niemanden unbemerkt hinein; gleichwohl sitzt eine Wache dahinter. Die Zeiten sind unsicher.
Ich trete in den Hausflur und stoße ein Seufzen aus. Ich verabscheue den Kerl in dem alten Sessel. Er besitzt kein Mitgefühl und keinen Anstand, dennoch hebe ich meine Hand und grüße. Weder höflich noch unhöflich. Nichts weiter als ein emotionsloser Gruß.
Er grüßt nicht zurück. »Solltest mal zackig ins Zimmer 113 marschieren, da is’ bald zappenduster«, informiert er mich und grinst.
»Zimmer 113 hat einen Namen«, entgegne ich scharf.
»Schön für sie.« Er widmet sich einer zerfledderten Illustrierten, die vor vier Jahren zum letzten Mal über belanglose Neuigkeiten aus der Welt der Schönen und Reichen informiert hat und jetzt eine verzichtbare Erinnerung an eine verschwundene Welt ist.
Zimmer 113. Seit meinem fünfzigsten Geburtstag existieren in der Welt immer weniger Namen. Die Menschheit, beziehungsweise was davon übriggeblieben ist, hat sich in zwei Lager gespalten: In diejenigen, die sich an ihre Mitmenschen klammern und Schutz, Trost und Aufgaben innerhalb einer festen Gemeinschaft suchen; die Strukturen brauchen, die geführt werden wollen. Und in diejenigen, die sich nicht an Personen oder Orte binden; die wandern, suchen oder fliehen. Drifter.
Ich bin ein Wanderer zwischen diesen Welten. Ich kultiviere den Abstand zu meinen Mitmenschen, baue Mauern, bleibe auf Distanz. Ich verzichte auf Strukturen, die erfolglos das alte Leben imitieren wie Erbsenbrei ein Steak. Ich suche keine Nähe zu den Menschen, um mich an deren Schultern auszuweinen oder ihre Hände zu halten. Ich will ihre Namen nicht kennen, ihre Geschichten nicht hören. Ich frage nichts Persönliches, ich erzähle nichts Persönliches.
Dieses Verhalten entspricht nicht meinem eigentlichen Charakter. Diese grundlegende Veränderung war keine bewusste Entscheidung; der Prozess geschah einfach. Unkontrollierbar, als verwandelte mich das Erscheinen des Vollmonds in einen Werwolf. Dieser Werwolf ist allerdings für niemanden gefährlich, er existiert ausschließlich zu meinem Schutz. Er warnt mich vor komplizierten Beziehungen und Situationen, die mein Ziel gefährden und ich höre auf ihn, da er sich selten irrt. Es ist ein psychologischer Mechanismus, den ich begrüße, denn ich bin auf der Suche und überzeugt, dass sie nur erfolgreich endet, wenn ich allein bin und bleibe.
Doch manchmal durchbricht ein Lächeln die Mauer; ein Blick überbrückt die Distanz. Meist, wenn ich Orte wie diesen erreiche. Und Menschen wie sie treffe. Sie verdienen, bei ihren Namen genannt zu werden. Sie verdienen, dass man ihre Geschichten hört und die eigene mit ihnen teilt. Treffe ich Menschen wie sie an Orten wie diesem, verwandle ich mich in mein altes Ich. Ich habe erneut keinen Einfluss darauf; wie ein Werwolf, der wieder zum Menschen werden muss, sobald der Vollmond hinter dem Horizont versinkt.
Ich steige die Treppe hinauf in die erste Etage. Links und rechts liegt je eine Wohnung, die Wohnungstüren sind lediglich angelehnt. In der rechten Wohnung hänge ich meine Jacke und den Rucksack an die Garderobe und stecke mein Device in die Gesäßtasche. Ich werde es brauchen.
Irgendwann nannte man die Smartphones, Tablets und Laptops nur noch Device. In der Werbung, im Alltag. Es wurde zwischen den Geräten nicht mehr unterschieden, alle waren ein Device; und jeder hat die Bezeichnung für die unverzichtbaren elektronischen Geräte übernommen.
Das Zimmer 113 befindet sich in der linken Wohnung im ersten Stock. Diese Wohnung verfügt über drei Zimmer, Küche und Bad. In allen drei Räumen leben alte und gebrechliche Menschen. Nicht ganz korrekt. In allen drei Räumen sterben alte und gebrechliche Menschen. Ich begrüße die beiden anderen Bewohner heute nicht, sondern steuere direkt auf das hintere Zimmer, vermutlich war es früher das Kinderzimmer, zu. Vor der Tür verharre ich für einen Moment.
Stimmt es eigentlich, dass die Menschen zuerst sterben, die einem etwas bedeuten? Oder empfindet man es so, weil man deren Tode zu wichtig nimmt und die Tode derer, die man nicht ins Herz geschlossen hat, lediglich eine Randnotiz sind? Wir machen selbst da Unterschiede, wo der Tod keine macht.
Ich klopfe an. Erst nachdem ich eine müde, unverständliche Stimme vernehme, drücke ich die Klinke hinunter. Die Tür hängt verzogen im Rahmen. Ein sanfter Stoß mit der Schulter lässt sie aufschwingen.
Das Zimmer spiegelt die Pflegeheime der alten Welt im Negativ. Was früher sauber und steril war, ist in der neuen Welt schmuddelig, verbraucht und muffig. Die geborstenen Fensterscheiben sind mit Pappe und Brettern vernagelt. Das einzige intakte Fenster lässt einen Schimmer grauen Lichts hinein. Es wird selten gelüftet, um die Asche fernzuhalten, und doch ist alles mit einer grauen Schicht überzogen. Sogar das Gesicht der bettlägerigen Dame. Asche findet immer einen Weg, unsere Gesichter zu bedecken. Asche ist die Totenmaske der neuen Welt. Ich greife nach einer Kerze und entzünde den Docht mit einem Streichholz.