Kapitel II
»Kommst du, mein Sohn?
Das Meeting beginnt in fünf Minuten!« Ein wohltönender Bariton hallte durch den Flur.
Der Sohn, dem dieser Aufruf galt, verdrehte die Augen. Er steckte mitten in einer wichtigen Mission, die darin bestand, eine Welt vor dem unausweichlichen Untergang zu retten. Nur er allein war in der Lage, diese Heldentat zu vollbringen. Daran bestand für ihn kein Zweifel – nicht nur, weil er bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf hingewiesen wurde.
»Fünf Minuten!«, ertönte es erneut.
Seufzend drückte er einen Knopf, um den Pausenmodus zu aktivieren, und legte den Controller, mit dem er die ganze Nacht hindurch in fremden Welten für Gerechtigkeit gekämpft hatte, zur Seite. Mühsam und umständlich erhob er sich aus dem Sitzsack; seine Glieder waren steif und die Gelenke knackten laut, als er sich ausgiebig reckte.
Gähnend stopfte er sein weißes Hemd in die graue Anzughose, richtete den schwarzen Schlips und nahm das ebenfalls graue Jackett vom Garderobenhaken. Beim Hinausgehen stoppte er, wie gewöhnlich, vor dem hohen Spiegel neben der Tür des Aufenthaltsraumes.
»Siehst gut aus, Jay!«, sagte er grinsend und feuerte eine Fingerpistole auf sein Spiegelbild ab, wobei er schnalzende Laute von sich gab.
Das Erscheinungsbild des ewig dreiunddreißigjährigen Mannes war durchaus als angenehm, wenn auch unspektakulär zu bezeichnen. Das mittellange Haar war mit sanften Naturwellen gesegnet und das schmale Gesicht besaß feine, weiche Züge. Die blauen Augen erweckten einen warmherzigen und melancholischen Eindruck und sein Mund lächelte meist freundlich. Er war darüber hinaus weder zu groß noch zu klein und von normaler Statur.
Seine Stärke war allerdings nicht sein Aussehen, auch wenn die angenehme Durchschnittlichkeit seine Vorteile hatte, sondern seine Menschenkenntnis. Er verfügte über die Gabe, das Wesen seines Gegenübers durch einen Blick in dessen Augen zu erkennen und sich dadurch auf seinen Gesprächspartner einzustellen, bevor dieser auch nur »Guten Tag« gesagt hatte.
Jay trat in einen weitläufigen Flur, der von natürlichem Licht erhellt wurde, obwohl nirgends Fenster oder andere Lichteinlässe zu entdecken waren. Das Gebäude barg viele Geheimnisse, die es allerdings nur offenbarte, wenn es notwendig war. Er wusste, dass er – trotz der ungeheuer langen Zeit, die er bereits hier angestellt war – noch nicht jedes Stockwerk, geschweige denn jedes Büro, gesehen oder mit jedem Kollegen gesprochen hatte, und vermutlich auch niemals würde. Früher hatte ihn dieser seltsame Umstand sehr beschäftigt, aber letztendlich musste er erkennen, dass es sinnlos war, einem Geheimnis auf die Spur kommen zu wollen, welches nicht daran dachte, sich entdecken zu lassen.
Der Flur erstreckte sich schier endlos vor ihm und die weißen Wände waren mit zahlreichen Gemälden behangen. Alte Meister, moderne Kunst, Expressionismus, Surrealismus, Barock, Romantik; es gab für jeden Geschmack etwas zu bestaunen. Jay, der kein Kunstexperte war, konnte sich an den wunderschönen Werken nicht sattsehen, zumal die herrlich gerahmten Malereien regelmäßig ausgetauscht wurden. Er hatte niemals jemanden dabei beobachtet, also schrieb er diesen Umstand dem mysteriösen Verhalten des Gebäudes zu und akzeptierte es.
Die Firma bot einem alles, was man brauchte, aber eine Sache vermisste Jay dennoch: die Natur. Er träumte davon, in einem echten Wald zu spazieren, seitdem er Dokumentationen darüber gesehen hatte. Die Faszination, welche die Worte und Bilder in ihm ausgelöst hatten, war auch nach langer Zeit ungebrochen. Es musste nicht so spektakulär wie der Regenwald sein; ein Spaziergang in einem herbstlichen mitteleuropäischen Mischwald würde ihm vollends genügen. Vor dem Einschlafen stellte er sich oft vor, in der Ruhe und Geborgenheit eines Waldes zu baden. Doch wusste er, dass sogar das wundersame Gebäude ihm diesen Wunsch nicht erfüllen würde; zumindest hatte er bisher keinen Weg gefunden, es davon zu überzeugen, ihn in einen Wald zu führen.
Jay schlenderte entspannt mit den Händen in den Hosentaschen durch den Flur. Pflanzen unterschiedlicher Art und bequeme Sitzgelegenheiten wechselten sich mit den Kunstwerken ab und sorgten für eine behagliche Atmosphäre. Er erfreute sich an den Reflexionen der Blumen, Grünpflanzen, Gemälde und des Lichts auf dem glänzenden Marmorboden.
Hätte der Vorsitzende der Firma, den alle nur Chef nannten, vor langer Zeit nicht eine äußerst gewagte Rettungsaktion genehmigt, und ihn somit aus einer prekären Situation gerettet, wäre er mit Sicherheit niemals hierher zurückgekehrt. Ebendiese vollkommen verrückte Aktion der Firma, die durch Jays verantwortungsloses Handeln unausweichlich geworden war, hatte ihr enormen Einfluss verliehen.
Daher sah die Firma großmütig darüber hinweg (meistens jedenfalls), dass er sie in diese Situation gebracht hatte. Und Jay sah seinerseits großmütig darüber hinweg (meistens jedenfalls), dass ein Verrat aus den eigenen Reihen ihn überhaupt in diese Situation gebracht hatte.
Diese spezielle Mission war nun schon viele Jahre her und der Vorstandsvorsitzende der Firma und die zwölf Mitglieder des Aufsichtsrates hielten ihn seitdem an der kurzen Leine. Die Aufgaben, die sie ihm von da an anvertrauten, forderten ihn nicht heraus; auch wenn Jay überzeugt war, zu Höherem berufen zu sein, verzog er bei dem Gedanken seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. Immerhin stand ihm durch seine wenig anspruchsvolle Tätigkeit in der Personalabteilung mehr Zeit für seine Hobbys zur Verfügung, und warum sollte er sich darüber beklagen?
Die meisten Kollegen begegneten ihm mit Höflichkeit und Respekt und er erfreute sich an einigen guten Freunden. Es blieb selbstverständlich nicht aus, dass es in einem großen Unternehmen Kollegen gab, die einem nicht wohlgesonnen waren, und ein ganz bestimmter Kollege brachte Jays Blutdruck regelmäßig in Wallung. Diesem Mistkerl würde er seinen Verrat weder verzeihen können noch wollen.
Jay war an seinem Ziel angelangt und betrat das Konferenzzimmer, in dessen Mitte ein ovaler Tisch stand, an dem bereits der vollständig versammelte Aufsichtsrat wartete. Der Platz zur Rechten des Chefs war frei und nachdem Jay salopp in die Runde gegrüßt hatte, ließ er sich auf den bequemen Bürostuhl fallen.
Da sie nun vollzählig waren, richteten sich alle Augen erwartungsvoll auf Chef. Er war einen Meter fünfundachtzig groß und schlank. Sein Alter war schwer einzuschätzen, aber wenn man seine zurückgekämmten grauen Haare – durch die noch die eine oder andere schwarze Strähne schimmerte –, seinen gepflegten grauen Vollbart, und die feinen Falten um die Augen betrachtete, war es durchaus denkbar, dass er seinen fünfzigsten Geburtstag bereits gefeiert hatte.
Gekleidet war er, wie alle männlichen Kollegen in der Firma, mit einem hellgrauen Anzug, weißem Hemd, einer passenden Weste und schwarzen Halbschuhen. Lediglich die Krawatten der Mitarbeiter unterschieden sich und Chef trug stets einen schlichten anthrazitfarbenen Schlips.
Jeder in der Firma schätzte ihn und betrachtete ihn als eine Art Vaterfigur, denn er war jederzeit hilfsbereit und freundlich, und niemand erinnerte sich, ihn jemals aufgeregt oder aufgebracht erlebt zu haben.
Chef blätterte in seinen Notizen, brummte und nickte, während er sie ordnete. Er trank einen Schluck Wasser, räusperte sich, tippte auf die Tastatur seines Laptops und ergriff, ohne aufzublicken, das Wort. »Guten Morgen und vielen Dank, dass ihr erschienen seid!«
Als ob wir eine Wahl gehabt hätten, dachte Jay gelangweilt und gähnte ungeniert.
»Ich habe die Versammlung kurzfristig anberaumt, um euch über Entwicklungen von höchster Wichtigkeit zu informieren. Vielleicht handelt es sich sogar um die wichtigste Entscheidung seit mehr als zweitausend Jahren!«
Ein erstauntes Raunen erfüllte den Raum.
»Es gibt keinen Grund zur Besorgnis, meine Lieben. Lasst uns beginnen!« Das war der Auftakt zu einem wortreichen, fünfundvierzigminütigen Bombardement mit Statistiken, Zahlenkolonnen und Grafiken, die er mittels Laptop und Beamer an die Wand projizierte.
Jay verschränkte die Hände vor seinem Bauch und schloss die Augen. Er war müde und während die warme Stimme des Chefs ihn einlullte, wanderten seine Gedanken zu Danny. Wenn es darum ging, komplexe Sachverhalte zusammenzufassen, schlüssige Konzepte zu schreiben und packende Präsentationen anzufertigen, konnte ihm niemand das Wasser reichen. Allerdings war Danny unfähig, vor Menschen zu sprechen und seine brillanten Ausarbeitungen ohne Stammeln und Stottern vorzutragen. Dieser Umstand hatte vor einiger Zeit Jays Aufmerksamkeit geweckt, denn Planen und Strukturieren zählten nicht zu seinen Stärken.
Seitdem arbeiteten sie zusammen und er konnte gut damit leben, dass Danny der Verstand, und er selbst das Sprachrohr war. Mittlerweile waren sie so gut eingespielt, dass Jay nur einen kurzen Blick auf Dannys Präsentation zu werfen brauchte, um den Kern der Aussage sofort zu erfassen. Für ihn war es ein vergnügliches Spiel, die Fakten aus dem Stegreif in Worte zu kleiden und die Anwesenden damit nicht nur zu informieren, sondern bestens zu unterhalten.
Ohne hinzusehen wusste Jay, dass Danny diese Präsentation nicht vorbereitet hatte, denn sie war zwar informativ, doch fehlte ihr das gewisse Etwas. Warum hat Chef uns nicht damit beauftragt? Seltsam! Aber wenn er das Dreamteam nicht gebeten hat zu helfen, kann die wichtigste Entscheidung seit zweitausend Jahren nicht so wichtig sein.
Er zuckte im Halbschlaf gleichgültig mit den Schultern, gähnte ausgiebig und hoffte auf einen frühen Feierabend, um sich wieder der Rettung fremder Welten widmen zu können.
»Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit«, sagte Chef am Ende seines Vortrages.
Die zwölf Anwesenden bekundeten ihren Beifall, indem sie leise mit den Fingerknöcheln auf den Tisch klopften.
»Es ist uns nicht leichtgefallen, diese Entscheidung zu treffen, aber die Entwicklungen lassen sich nicht mehr ignorieren.« Chef griff zu seinem Glas und trank, bevor er fortfuhr. »Es ist unumgänglich, dass ihr informiert seid, denn ihr werdet während der Mission Anomalien in den Daten feststellen. Unruhe ist unter allen Umständen zu vermeiden! Diskretion ist das oberste Gebot!« Er räusperte sich und betrachtete ein Gemälde an der Wand, welches er noch nie zuvor gesehen hatte. Es zeigte einen dramatischen Sonnenuntergang in kräftigen Farben. »Ich kann nicht oft genug betonen: Diese Mission ist von größter Wichtigkeit! Sind wir nicht erfolgreich, werden wir aufhören zu existieren.«
Die Stimme des Chefs verfehlte ihre Wirkung nicht. Selbst beunruhigende Nachrichten wie diese klangen vergleichsweise harmlos, wenn er sie mit seinem wohlig-warmen Bariton vortrug und die Unruhe der Anwesenden hielt sich in Grenzen.
Jemand am Tisch meldete sich.
»Ja, Judd?« Mit einem Nicken forderte Chef den Mann mit dem fliederfarbenen Schlips auf, seine Frage zu stellen.
»Implizierst du mit uns, dich und ihn?«, fragte er mit dem nasalen und snobistischen Tonfall eines britischen Aristokraten und strich den hauchdünnen Clark-Gable-Schnauzer mit Daumen und Zeigefinger glatt.
Chef blieb stumm; seine Mundwinkel zuckten nervös und Judd lehnte sich lächelnd zurück, als wäre das die Antwort, die er erwartet hatte. Erneut ertönte ein Raunen, denn er mischte sich für gewöhnlich nicht in die Angelegenheiten der Firma ein und war mehr ein Mythos als alles andere.
Chef erhob die Hände zu einer beschwichtigenden Geste und wechselte das Thema. »Nun, meine Freunde, versteht ihr, warum es wichtig ist, dass wir wieder präsent sind? Vor Ort sind?«
Vereinzeltes, zögerliches Kopfnicken war die Antwort.
Schließlich meldete sich Judd erneut. »Und wem gedenkt ihr, das Schicksal der Firma anzuvertrauen?«
»Wir setzen auf Erfahrung. Auf Charme. Eine gewisse Eloquenz und Leutseligkeit ist darüber hinaus definitiv hilfreich.«
Jay gähnte gerade herzhaft, als er die bohrenden Blicke von dreizehn Augenpaaren auf sich spürte. Er schaute müde zum Chef hinauf und sah ein breites Lächeln auf dessen Lippen. »Äh … Moment … Ich habe scheinbar nicht alles ganz genau mitbekommen. Wollt ihr etwa mich in den Außendienst schicken?« Nervös rutschte er auf dem Bürostuhl hin und her.
»Wen, wenn nicht dich? Du kennst die Menschen wie kein Zweiter und hast bereits Erfahrungen gesammelt!«
»Bereits Erfahrungen gesammelt? Tolle Erfahrungen waren das! Und es ist eine Ewigkeit her!«
»Übertreib bitte nicht! Eine Ewigkeit ist etwas ganz anderes, mein Sohn!«
»Du weißt, was ich damit sagen will!« Jays Miene verfinsterte sich. »Und jetzt soll ich nach all der Zeit die andere Wange hinhalten? Sobald der da mitmischt«, er deutete auf Judd, »lande ich am Kreuz!«
Judd warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Was unterstellst du mir? Strebt man nach höheren Zielen, ist es eine moralische Verpflichtung, zu Opfern bereit zu sein! Oder etwa nicht? Ohne meine Unterstützung wäre dein lustiger kleiner Ausflug reine Zeitverschwendung gewesen.« Überheblich lächelnd lehnte er sich zurück und verschränkte seine Arme vor der Brust.
»Judd hat leider nicht ganz unrecht, mein Sohn«, stimmte Chef zu. »Aber Kreuzigungen sind heutzutage kaum noch üblich. Meide einfach die Regionen, in denen das noch an der Tagesordnung steht, und alles wird gut. Falls es dich beruhigt: Wir haben entschieden, dass es eine Ein-Mann-Mission ist.«
»Du weißt, ich bin immer deiner Meinung, aber diesmal nicht. Ich halte es in Zeiten wie diesen für Schwachsinn. Mit Verlaub.«
»Hmm«, brummte Chef mit seiner tiefen Stimme. »Gewagt und riskant? Ja! Schwachsinn? Ich glaube nicht!« Er wandte sich dem Aufsichtsrat zu. »Lasst uns abstimmen! Wer dafür ist, dass JayCee die ehrenvolle Aufgabe übernimmt, der hebe die rechte Hand. Die Mehrheit entscheidet.«
Jay schloss die Augen und hörte Chef leise zählen.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf.«
Er kniff die Augen noch fester zusammen.
»Sechs.«
Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und er presste die Lippen aufeinander. Nach einer gefühlt endlosen Pause sagte Chef: »Sieben!«
Jay sprang auf und warf die Arme in die Luft. »Oooh, verdammter Mist! Was fällt euch eigentlich ein?« Einige Kollegen grinsten unverhohlen, was ihn noch mehr aufregte. »Warum bist du dafür, Judd? Hast du wieder Lust, mich zu opfern? Willst du Blut sehen?«
»Ach, nicht doch! Jedenfalls nicht notwendigerweise. Sollte es sich allerdings als unausweichlich herausstellen, werde ich tun, was zu tun ist.« Er grinste herablassend und glättete seinen Oberlippenbart.
»Und du, Peter? Ernsthaft? Warum? Ich dachte, du wärst mein Freund!«
Der schüchtern wirkende junge Mann mit der hellblauen Krawatte senkte seine sanften Augen. »Weil du den Menschen guttun wirst, JayCee. Weil sie dich und uns brauchen. Viele wissen es noch nicht und andere haben es vergessen.«
»Na, danke auch!« An den Chef gewandt knurrte er: »Und du bist ebenfalls der Überzeugung, dass sie auf mich warten, während sie Serien im Akkord glotzen oder auf ihr Smartphone starren?«
»Wir denken ja, mein Sohn. Nicht jeder Einzelne wartet auf dich, aber viele.«
»Das sind ja tolle Aussichten!«
Judd meldete sich zu Wort. »Du weigerst dich doch lediglich, dein bequemes Leben als verhätscheltes Papasöhnchen aufzugeben«, sagte er scharf. »Was leistest du schon für die Firma? Du faulenzt den ganzen Tag an der Spielkonsole, flanierst wie ein eitler Pfau durch die Flure und schwingst große Reden!«
Jay ertrug den herablassenden Tonfall nicht. Er holte bereits tief Luft, aber Chef legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Jungs, lasst es gut sein! Das Meeting ist hiermit beendet. Ich werde euch auf dem Laufenden halten … Und jetzt: schönen Feierabend!«
In weniger als einer Minute leerte sich das Sitzungszimmer und Jay blieb mit Chef allein zurück.
»Mein Sohn, ich benötige noch etwas Zeit, bis alle Details geregelt sind. Nutze die nächsten Tage gut! Überleg dir deine Schritte sorgfältig, denn die Planung überlassen wir dir. Sobald alles vorbereitet ist, werde ich dich rufen!«
Chef nickte kurz und Jay verstand, dass die Unterhaltung damit beendet war.
‡ ‡ ‡ ‡ ‡
In den folgenden zwei Wochen war Jay schwer beschäftigt. Zugegebenermaßen nicht mit der bevorstehenden Mission, aber immerhin hatte er drei neue Spiele beendet und seinen Ruf als Weltenretter untermauert.
Als Chef ihn in sein Büro bat, folgte er der Anweisung unverzüglich, wenngleich nicht frei von schlechtem Gewissen.
»Mein Sohn, entschuldige, dass ich dich so lange habe warten lassen, aber die Vorbereitungen haben mehr Zeit in Anspruch genommen, als ich dachte.«
»Kommt nun die große Einsatzbesprechung?«
»Ja. Kaffee?«
»Warum nicht …«
Chef stellte zwei Tassen auf dem Schreibtisch ab und sprach eine halbe Stunde lang wie ein Vater zu seinem Sohn über Ideen, Hoffnungen und Ziele. Er beendete seinen Monolog, in dem er einige Punkte der Präsentation wiederholt und die Wichtigkeit der Mission mehrfach nachdrücklich hervorgehoben hatte, und lehnte sich zurück. Dann legte er die Fingerspitzen zusammen und seine Hände formten ein Dreieck, über welches hinweg er Jay fixierte. Da Jay vermied, ihn anzuschauen, und stattdessen auf die eigenen Hände starrte, entgingen ihm der nervöse Blick und die zitternden Finger seines Chefs.
»Nun, Jay … Bist du bereit?«
»Ja, das bin ich.« Er antwortete erschreckend schnell. Ihm war nicht entgangen, dass man ihm freie Hand in der Ausgestaltung seiner Mission ließ und er allein die Verantwortung für das Gelingen trug. Das gefiel ihm gar nicht.
»Fein. Dann ist es beschlossen! Du kennst das Ziel. Du sollst schalten und walten, wie es dir beliebt. Du hast alle Zeit, die du brauchst! Wenn du bereit bist, all das für uns auf dich zu nehmen, kann die Mission starten. Du weißt, wie wichtig du für dieses Unternehmen bist! Von dir hängt unser Überleben ab!«
»Vielen Dank! Wenn du mich noch mehr unter Druck setzt, furze ich Diamantenstaub«, knurrte Jay.
»Na, na. Wenn einer von uns mit Menschen gut umgehen kann, bist du das! Und es ist eine große Ehre, dass wir dich erneut ausgewählt haben, um die Firma zu retten. Das ist dir doch bewusst, oder?«
»Außer mir ist ja niemand verrückt genug, diesen Job zu übernehmen.«
»Das ist vermutlich auch ein Grund.« Chef lächelte unsicher.
»Die letzte Mission ist … eher bescheiden gelaufen …«, gab Jay kleinlaut zu bedenken.
Chef zögerte kurz und räusperte sich. »Das Ergebnis zählt und manchmal muss man bereit sein, ein Opfer zu erbringen.«
»Du hast leicht reden. Von euch wurde kein Opfer verlangt.«
»Auch das ist richtig, mein Sohn. Aber ich denke, wir haben gut für dich gesorgt, oder?«
»Habt ihr«, stimmte Jay zu. Er war dankbar für das angenehme Leben in der Firma.
»Nun? Bist du bereit?«, fragte Chef erneut mit einem leichten Zittern in seiner Stimme, das Jay diesmal nicht entging.
Er klingt nervös, dachte er. Kein Wunder! Mit ihm zusammenzuarbeiten, ist ein großes Ding. Um sich nicht die Blöße zu geben, antwortete er: »Was denkst du denn? Dass ich nur Videospiele gezockt habe?« In der Tat wünschte er sich in diesem Moment, dass er weniger Zeit mit seiner Spielkonsole verbracht und stattdessen nur einen einzigen Gedanken an die Mission verschwendet hätte.
»Dann bin ich beruhigt. Es geht nichts über einen ausgeklügelten Plan und bei deinem Improvisationstalent sehe ich es als einen Spaziergang für dich an. Weißt du schon, wie du in Erscheinung treten willst?«
Jetzt grinste Jay und sagte spontan: »Klassisch.«
Chef kniff die Augen zusammen. »Mein Sohn, wir haben das Jahr …« Er stockte. »Zweitausend und irgendwas in den Zwanzigern! Ich bin mir nicht sicher, ob du einen seriösen Eindruck machst, wenn du in diesem Aufzug dort erscheinst. Und außerdem …«
Jay fiel ihm ins Wort: »Das ist meine Entscheidung! Klassisch!«
»Überleg es dir bitte …«
»Nein!« Jay verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wie du meinst!« Chef wusste, dass gegen Jays Starrsinn nicht mit guten Worten anzukommen war. »Du bist ja schon erwachsen.« Er starrte lange auf seine Armbanduhr als präge er sich die Uhrzeit genau ein. »Dann geht es jetzt los! Verrätst du mir, wie du die Mission beginnen wirst?«
Jay improvisierte. »Ich besuche zuerst den großen Stellvertreter.«
»Wunderbare Idee, JayCee!«, sagte Chef aufrichtig überrascht. »Du hast deine Hausaufgaben gemacht, wie ich sehe! Ich wusste, du bist der richtige Mann für diese Mission!«
»Ich hoffe, er wird mich anhören«, stieg Jay durch die positive Bestätigung in die eigene Improvisation ein. »Er dürfte nicht gerade begeistert sein!«
»Du hast vollkommen recht, mein Sohn! Er wird von unserem Vorhaben ganz und gar nicht begeistert sein! Aber ich weiß, dass du ihn überzeugen wirst. Dein Besuch bei ihm hat hohe Priorität, und was auch geschieht: Sobald du in seinem Hoheitsgebiet ankommst, musst du bei ihm vorstellig werden. Nimm dir alle Zeit, die du brauchst, um die Mission zu einem guten Ende zu bringen. Nun geh zu Abigail und lass dich ausstatten.«
Jay erhob sich und sein Vorgesetzter, Freund und Vaterersatz trat hinter seinem Schreibtisch hervor. Chefs kräftige Hände drückten sanft Jays Schultern und seine Augen waren feucht. »Pass auf dich auf, mein Sohn. Ich lege all meine Hoffnung in dich.« Er schloss ihn in die Arme und flüsterte: »Unser aller Segen sei mit dir, JayCee!«
Jay hatte das Gefühl, dass Chef ihm noch etwas anderes sagen wollte, aber da er schwieg, ließ Jay es auf sich beruhen.
One thought on “Mission: Lichtbringer – Leseprobe”
Comments are closed.