Fünf Minuten – Leseprobe

1281 Wörter aus meinem Buch „Fünf Minuten“

Samstag, 14.03.2015

Ich habe mich entschlossen, eine Art Tagebuch zu führen und meine Gedanken aufzuschreiben. Für mich und vielleicht für andere. Es gibt gute Gründe dafür… zum einen, was heute Nachmittag passiert ist und zum anderen, weil ich denke, dass zu viel oder auch alles von einem Menschen Erlebte verlorengeht, wenn man es nicht aufschreibt. Jeder kennt die Geschichten der Großeltern, mit denen sie auf jeder Familienfeier nerven, bis man irgendwann nicht mehr hinhört. Wenn die Großeltern dann schließlich tot sind, erinnert man sich nicht mehr an die Einzelheiten und erzählt die Geschichte entweder falsch oder gar nicht mehr. Ich habe keine Kinder und nur wenige Freunde, denen ich meine Geschichten erzählen könnte und heute überkommt mich das Gefühl und die Angst, dass alles, was ich bin, sich mit meinem letzten Atemzug in einen Nebel auflöst, der sich schnell senken und mit dem Staub auf dem Fußboden vermischen wird und eins wird mit dem Vergessen. Vielleicht, und das ist auch ein Grund, möchte ich selbst vieles nicht vergessen. Wer ich war und warum ich so wurde, wie ich jetzt bin.

Ich fange nicht mit dem Ereignis an, welches mich dazu nötigt, diese Zeilen zu Papier zu bringen, sondern ich markiere meinen heutigen Standpunkt in meinem Leben, blicke zurück und versuche mich an das zu erinnern, was für die heutigen Ereignisse vielleicht wichtig sein mag. Damit haben die heutigen Ereignisse die Möglichkeit, sich zu setzen

und ich habe die Möglichkeit, sie vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt etwas objektiver zu schildern.

Ich hatte eine gute Kindheit; meine Eltern waren gute
Menschen, rechtschaffen, arbeitsam und liebevoll. Von den Problemen, die sie vielleicht gehabt haben mögen, habe ich als Kind nie etwas zu spüren bekommen; außer an diesem Winterabend, an dem wir alle am Küchentisch saßen, meine Eltern sich ernsthaft unterhielten und ich, wie man es als Kind so tut, mit irgendwelchem Quatsch dazwischen geredet habe. Da mussten sie mich ermahnen, dass meine Albernheiten nicht angebracht sind… aber das habe ich damals schon verstanden. Das war’s. Ich glaube, mehr Ärger habe ich ihnen nicht gemacht und rückblickend betrachtet, war das wohl nicht wirklich der Rede wert. Eine Lappalie. Genau wie meine Sorge, dass meine Mutter bei einem Elternabend in der vierten Klasse herausbekommt, dass ich ein schrecklicher Störenfried ersten Ranges bin. Ausgerechnet drei Tage vor dem Elternabend habe ich mich im Unterricht, wobei ich nicht mehr weiß, welches Fach es war, mit meinem Sitznachbarn, dessen Namen ich vergessen habe, unterhalten und musste von der Lehrerin ermahnt werden.

Ich starrte aus dem Wohnzimmerfenster, in Erwartung, meine Mutter zutiefst enttäuscht und traurig den Berg zu unserer Wohnung durch den Schnee hinaufstapfen zu sehen und das Warten machte mich verrückt, da ich diesen Fehltritt als so schlimm empfand, dass ich mir nur die schlimmste aller Strafen ausmalen konnte, nämlich meine Eltern verärgert zu haben und dass sie mich nicht mehr beachten würden. Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit in der selbst kreierten Hölle, kam meine Mutter nach Hause und freute sich doch tatsächlich darüber, was für ein liebes, gescheites und artiges Kind ich sei.

Wie man merkt, war ich ein sehr schüchternes, ängstliches Kind und nicht besonders mit Selbstbewusstsein gesegnet. Ich bin nun mal kein Alphamensch, sondern sehr von den Stimmungen anderer abhängig. So war es als Kind und so ist es noch heute. Ich ging selten, oder noch treffender, niemals in die Offensive, sondern reagierte nur. Ich hatte das Glück, dass ich es irgendwie immer schaffte, die Mitschüler und Erwachsenen davon zu überzeugen, dass ich nett und harmlos bin, woraufhin sie mich zufrieden ließen und sogar mochten. Meine Leistungen in der Schule waren ansehnlich und jeder glaubte, dass mir alles einfach so zufliegen würde, aber was niemand wissen konnte, ist, dass ich vor jeder Klassenarbeit wie ein Verrückter gepaukt, Blut und Wasser geschwitzt und zum lieben Gott gebetet habe, dass es gutgehen möge, aus Angst zu versagen. Ich möchte rückblickend meinen, dass es mir nicht möglich war zu glauben, dass man alles aus eigener Kraft im Rahmen seiner Möglichkeiten schaffen kann. Kein Gott paukt Vokabeln mit irgendwem. Damals hat es seinen Zweck erfüllt und daher habe ich auch heute noch Verständnis für die Menschen, die sich an einen Gott klammern und seine Barmherzigkeit täglich mit Gebeten einfordern.

In den Achtzigern war Bolzen noch hoch im Kurs und da

ich in der Nähe des Fußballplatzes wohnte, musste ich meist nur ein oder zwei Minuten aus dem Fenster schauen, um zu sehen, ob ein hoher Ball getreten wurde und wenn dem so war, bin ich runtergegangen… zuerst vorsichtig, um zu schauen, wer dort spielt, aber wenn es Kinder waren, mit denen ich gut auskam und die mir keine Angst machten, habe ich mich der Gruppe angeschlossen. Ängstlichkeit ist mein Begleiter, seitdem ich geboren wurde. Ich hatte als Kind vor allem Angst und Sorge, was passieren könnte. Ich habe heute vor allem Angst und Sorge, was passieren könnte. Es vergeht kein Tag, seit dem ich angefangen habe bewusst zu denken, an dem ich nicht vor dem Möglichen und Unmöglichen Angst und Sorge um das Gelingen eines jeden Gedankens und jeder Tat hatte.

Ich weiß nicht, wo diese Angst zu Versagen ihren Ursprung hat. Vielleicht bin ich durch meinem älteren Bruder geprägt, der wirklich das komplette Gegenteil von mir war. Ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen, ein Troublemaker, wie er im Buche steht. Vielleicht hat der viele Ärger, den meine Eltern seinetwegen hatten, mich dazu gebracht, es anders zu machen. Allerdings wäre es vermessen, da eine bewusste Entscheidung hineinzuinterpretieren; vielmehr muss es eine unbewusste Entscheidung gewesen sein. Heutzutage ist mein Bruder aber ein anderer Mensch und auch das möchte ich einmal zu Papier bringen. Nach seinen Flegeljahren hat er einen beeindruckenden Weg durch das Arbeitsleben gemacht und ich bin regelrecht darüber erstaunt, was für Mühe und Arbeit er auf sich nimmt, um voranzukommen. Wollte ich als Kind nichts mit meinem Bruder gemeinsam haben, bin ich heute schwer beeindruckt von seinem Willen und Fleiß. Bei mir ist es andersherum gekommen: erst habe ich Vollgas gegeben und jetzt befindet sich mein Leben im Leerlauf.

Wenn ich von einigen wenigen Freunden absehe, mit denen ich gerne gespielt habe, hat es mir Spaß gemacht, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Ich brauchte nie viele Menschen um mich herum. Ich konnte stundenlang in meinem Kinderzimmer mit meinem Playmobilspielzeug spielen, lesen, malen oder Hörspielkassetten hören. Es gab immer wieder Tage, da mussten meine Eltern ab und zu mal in mein Kinderzimmer schauen, um sich zu vergewissern, dass ich noch da war, so wenig hat man mich als Kind bemerkt. Daran hat sich bis heute nichts geändert, nur die Spielzeuge sind andere geworden.

Ich denke, dass ich, damals wie heute, ein recht angenehmer Zeitgenosse bin, mit dem man gut auskommen kann. Ich bin hochgradig harmoniebedürftig, verursache niemals Unannehmlichkeiten und ärgere mich ausschließlich über mich selbst und meine Unzulänglichkeiten. Meine Eltern waren niemals Menschen, die auf Konfrontationen aus waren; viel wichtiger war, dass man nett, höflich und korrekt wahrgenommen wurde, wie die Pinguine aus MadagaskarLächeln und winken. Unauffällig sein und nirgends anecken. Das beherrsche ich bis zur Perfektion. Liegt es mir in den Genen oder ist es anerzogen? Vielleicht ist das auch nicht gesund, ich weiß nicht. Ich bewundere heute Menschen, die Prinzipien und eigene Meinungen haben und sich nicht scheuen, diese kundzutun, egal ob es sich dabei um Schwachsinn handelt oder nicht. Was ich allerdings nicht schätze, sind Klugscheißer und Menschen, die einen völlig unaufgefordert mit ihren Gedanken vollmüllen. Davon hat es in meinem Leben einige Zeitgenossen gegeben; selbstgefällige Arschlöcher, die Menschen wie mich gerne niedermachen und die ihre Position ausnutzen. Viele, wirklich viele Jahre lang hatte ich große Schwierigkeiten, mit solchen Situationen umzugehen und konnte es nicht einfach verarbeiten. Aber ich denke, ich habe mich damals niemals wirklich reflektiert und verstanden.

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