Die Träne der Zauberschen – Leseprobe

1477 Wörter aus meinem Buch „Die Träne der Zauberschen“

  1. Kapitel

»Wann besuchen wir die Großmutter?«
Die sechsjährige Grete blickte sie mit großen Augen erwartungsvoll an.
Barbara schenkte ihrer Tochter ein strahlendes Lächeln. »Jetzt, wenn du möchtest, mein Schatz. Vater ist unterwegs zum Vogt und bis zum Abendessen bleibt uns genügend Zeit«, sagte sie fröhlich.
Der Vogt bekam oft hohen Besuch im Auftrag der Herzogin und bat Friederich regelmäßig, ihm zum Abend frische Brote zu backen. Es war ein bescheidener Wunsch des Vogtes, dem der Bäcker auch am heutigen Tag mit Freude nachkam.
Barbara genoss es, mit Grete durch das Dorf zu spazieren, und erfreute sich daran mindestens so sehr wie ihre Tochter.
Ihr Leben war anstrengend, aber sie war glücklich. Sie liebte ihren Ehemann und sie wusste, dass er sie liebte, was in den harten Zeiten auf dem Lande nie eine Selbstverständlichkeit war. Besonders nachdem sie ihre gemeinsame Tochter geboren hatte, vermochte sie sich nicht vorzustellen, wie das Leben noch schöner sein könnte.

2

Barbara hatte ihren Ehemann im Jahre des Herrn 1604 kennengelernt und es sollten die sieben schönsten Jahre ihres Lebens folgen.

Sie war im Nachbardorf aufgewachsen und selbst bei der besten Ernte war es ihnen nicht möglich, aus eigener Kraft so viele Brotlaibe zu backen, wie der egoistische und selbstverliebte Dorfvorsteher zu seinem Hochzeitsfest gefordert hatte. Die Einwohner des Dorfes kamen nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss, dass sie Hilfe benötigten und schickten Barbara, die Tochter des Bäckers, mit einem Brief, der ihre Notlage erklärte, nach Pfüeln, um vom befreundeten Bäcker Friederich einige Laibe Brot zu erbitten.
Nachdem sie in Pfüeln angekommen war, erkundigte sie sich bei der ersten Einwohnerin, die sie an der imposanten Kastanie am Ortseingang traf, nach dem Weg zur Backstube. Die verträumt lächelnde, kleine Frau beschrieb ihr den Weg und als sie die Bäckerei erreichte, beobachtete sie Friederich für einen Moment durch die geöffnete Tür bei der Arbeit.
Sie betrachtete ihn mit einer schamvollen Neugier. Er war für einen Mann nicht groß, aber die harte, tägliche Arbeit hatte ihm einen kräftigen Körper beschert. Die Glatze ließ ihn älter wirken, als er tatsächlich war; aber es waren seine gütigen Augen, in die sie sich augenblicklich verliebte. Sein mit Mehlstaub bedecktes Gesicht verstärkte die Wirkung der braunen Augen, denn sie strahlten die Art von Wärme und Güte aus, nach der Barbara sich sehnte.
Als er sie bemerkte, kam er auf sie zu.
Sie starrte ihn an und die sorgsam zurechtgelegten Worte, mit denen sie den Bäcker um Hilfe zu bitten gedachte, waren aus ihrem Kopf verschwunden.
»Seid gegrüßt, Bäcker Friederich«, stotterte sie unbeholfen und blieb in der offenen Tür stehen. »Mein Vater schickt mich mit einem Brief zu Euch«, ließ sie ihn wissen, ohne jedoch Anstalten zu machen, ihm diesen zu reichen.
Friederich klopfte sich das Mehl von den Händen und wartete. Ihr kam es wie eine Ewigkeit vor, während sie in seinen Augen versank.
Schließlich deutete er auf ihre rechte Hand und lächelte, als er fragte: »Ist das der Brief?«
»Verzeiht?« Sie löste ihren Blick von seinem Gesicht und sah, dass sein Finger auf den Umschlag zeigte, den sie fest umklammert hielt. »Ja, das ist er!« Sie spürte, wie ihre Wangen sich rosig färbten, räusperte sich und schlug ihre Augen nieder. Dann fielen ihr die Worte wieder ein, die sie sich auf dem langen Marsch eingeprägt hatte. Sie blickte ihn an und wollte ihren wohlüberlegten Text aufsagen, als sie sah, dass er lachte.
»Lacht Ihr mich womöglich aus?«, fragte sie mit einem Hauch Entrüstung in ihrer Stimme.
»Mitnichten!«, beteuerte Friederich lachend. »Ich bin allerdings von Eurer Art entzückt und sehr erfreut, dass Ihr mich aufsucht. So tretet ein in meine bescheidene Behausung und setzt Euch! Darf ich Euch etwas zu trinken anbieten, während ich den Brief lese? Ich habe frische Milch für Euch.«
»Sehr gerne«, sagte Barbara und spürte, wie sie noch mehr errötete.
Er führte sie in sein Haus und sie nahm am Küchentisch Platz.
»Ihr könnt lesen?«, fragte sie neugierig.
»Ja, nicht sehr gut, aber es reicht«, erwiderte er. »Unser alter Pfarrer, Gott hab ihn selig, hatte sich in den Kopf gesetzt, den Jungs das Lesen beizubringen. Über Jahre hinweg hat er uns an mehreren Tagen in der Woche in seiner Stube unterrichtet.«
Barbara war beeindruckt und beinahe neidisch. Wie gern hätte sie selbst lesen und schreiben gelernt.
Nachdem er ihr ein Glas Milch gereicht hatte, setzte er sich ihr gegenüber und las den Brief in Ruhe. Wiederholt nickte er und strich sich über den buschigen Schnauzbart.
Als er das Schreiben gelesen hatte, legte er es auf den Tisch, schaute in das Gesicht von Barbara und lachte schallend.
Sie war verunsichert und fühlte sich verletzt, weil sie nicht verstand, warum er über ihren Auftrag lachte. »Was habt Ihr, Bäcker?! Haltet Ihr die Lage, in der wir uns befinden, etwa für lächerlich?«
Sie erschrak über den schroffen Klang ihrer Stimme, denn schließlich war das ganze Dorf auf Friederichs Hilfe angewiesen und sofort bedauerte sie ihren Tonfall.
Er antwortete nicht auf ihre Frage, sondern stand lachend auf und griff nach einem Tuch, welches auf einem Regal lag.
Barbara ärgerte sich entgegen ihrer liebenswürdigen Natur noch mehr über das Benehmen Friederichs. »Nun verratet mir schon, warum Ihr mich auslacht. Ich finde Euer Verhalten nicht angemessen!« Sie stand auf und blickte ihn wütend an, wobei sie ihre Lippen kräuselte.
Da lachte er noch lauter und machte mit der rechten Hand eine kreisförmige Geste um seinen Mund. Mit der linken Hand streckte er ihr das Tuch entgegen.
Da verstand sie. Ihr Gesicht glühte nun und sie griff eilig nach dem Tuch.
»Ich habe einen Milchbart, richtig?«
Friederich japste nach Luft und nickte.
»Herrje, wie unangenehm!« Sie wischte den Milchbart mit hektischen Bewegungen fort.
»Im Gegenteil, sehr hübsch anzusehen«, keuchte er. »Das Bärtchen steht Euch hervorragend.«
»Ihr seid gemein«, sagte sie und stimmte in das Gelächter ein.
»Übrigens, ich heiße Friederich«, sagte er atemlos und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.
»Ich bin Barbara.«
»Ich bin hocherfreut, dich kennenzulernen, Barbara.«
»Ich freu mich ebenso, dich kennenzulernen, Friederich.«
Sie nahmen wieder Platz und er warf erneut einen Blick auf das Schreiben.
»Also, zu eurem Problem … ich werde euch mit Freuden helfen. Ich trage zwar die Verantwortung, dass jeder in meinem Dorfe genug Brot zu essen hat, aber ich verstehe eure missliche Lage. Ich werde die gewünschte Zahl an Broten für das Fest eures Vogtes backen und bin sicher, dass bei uns niemand Hunger leiden muss.«
Barbara sprang auf und klatschte in die Hände.
»Fein, da wird sich mein Vater sehr freuen!«, sagte sie glücklich, wurde aber umgehend wieder ernst. »Unser Dorfvorsteher ist ein gemeiner und gehässiger Mensch und er hat ihm mit zwanzig Peitschenhieben gedroht, falls auch nur ein Brot fehlen sollte! Dabei hat er für seine Hochzeit mehr Essen geordert, als seine Gäste jemals essen könnten und er weiß, dass wir all unsere Vorräte dafür aufbrauchen müssen! Uns graut vor dem kommenden Winter und es wäre eine entbehrungsreiche, trostlose Zeit, wenn du uns nicht helfen würdest!« Mit leiser Stimme fragte Barbara ängstlich: »Ich hoffe, der Preis ist angemessen, den mein Vater dir anbietet?!«
»Nun ja …«, Friederich strich sich erneut über den Schnauzbart und lächelte freundlich. »Der Preis wäre in der Tat noch zu verhandeln.«
»Wir können leider nicht mehr zahlen, als mein Vater dir angeboten hat. Das gesamte Dorf hat seine Taler und Groschen gegeben, damit wir im Winter nicht hungers sterben müssen!«
Barbara war enttäuscht, denn sie hatte nicht erwartet, dass der Bäcker versuchen würde, aus ihrer Notlage Profit zu schlagen.
»Nun … Übermorgen soll das Fest beginnen, was mir genügend Zeit gibt, die Brote zu backen. Ich werde sie euch mit Freuden und persönlich bringen, aber nur unter einer Bedingung!« Er lächelte und seine braunen Augen strahlten sie an.
Barbara klopfte das Herz bis zum Hals und sie spürte, dass sie erneut errötete.
»Die Bedingung ist, dass ihr euer Geld behaltet und du bis übermorgen in Pfüeln bleibst und gemeinsam mit mir die Brote backst!«
»Ich bin die Tochter eines Bäckers!«, jauchzte sie aufgeregt. »Gewiss helfe ich! Du wirst keine Zeit mit unnötigen Erklärungen verschwenden müssen!«
Er lachte auf und streckte seine Hand aus. »Abgemacht?«
Ohne zu zögern schlug sie ein und entgegnete lachend: »Abgemacht!«
In dieser Nacht quartierte er sie in einem Zimmer im Wirtshaus ein und tags darauf verlebten sie die schönsten Stunden ihres bis dahin jungen Lebens, als sie gemeinsam in der Backstube die Brote backten. Das augenscheinlich ungleiche Paar genoss die Zeit miteinander; sie lachten viel und waren einander vom ersten Moment an zugetan.
Hätten die Dorfbewohner durch die mehlbestäubten Fensterscheiben geschaut, würde jeder einzelne bezeugen, dass Friederich noch niemals dermaßen vergnügt bei der Arbeit anzutreffen gewesen war.
Als das Tagwerk vollbracht war und der Abend dämmerte, bat er Barbara, zum Abendessen zu bleiben. Nachdem sie eingewilligt hatte, verschwand er für eine halbe Stunde und kam mit einer Flasche Wein, Speck und Eiern zurück.
In dieser Nacht blieb das Bett im Wirtshaus leer.