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Der Begriff „Absorption“ steht in der Psychologie für eine „Offenheit gegenüber emotionalen und geistigen Änderungen“ erklärt Ian Cushing im Vorwort seines gleichnamigen Buches. Und Offenheit gegenüber verschiedenen Genres und Gattungen dürfte auch Grundbedingung sein, damit man sich an dieser Anthologie erfreuen kann. Denn Absorption vereint Geschichten, die von unterschiedlichsten Stimmungen und Themen geprägt sind. Die Akzeptanz der eigenen Vergänglichkeit, die Wertschätzung der einfachen Dinge, Verständnis für das Andersartige, die Bewertung tradierter Überzeugungen aus der Perspektive gesellschaftlicher Außenseiter – all diese Themenkomplexe spielen in Absorption eine Rolle und wurden von Ian Cushing in unterschiedlichste literarische Gattungen gegossen.
„Diese Sammlung von dreizehn kurzen Geschichten absorbiert, was das Leben uns schenkt: Liebe, Schmerz, Glück und Tod“, fasst der Klappentext die Themenvielfalt dieser Anthologie treffend zusammen. Was dabei zunächst kaum auffällt: Es ist von „kurzen Geschichten“ die Rede und nicht etwa von „Kurzgeschichten“. Und das hat bei Absorption seine Richtigkeit, denn die Anthologie umfasst keineswegs nur klassische Kurzgeschichten aus Sicht der handelnden Figuren oder eines distanzierten Erzählers. Nein, absolut nicht, denn in einigen der enthaltenen Texte verhält sich der Erzähler alles andere als distanziert und hat durchaus eine klare Meinung zu dem Geschehen.
Ein Potpourri an Gattungen: Kurzgeschichten, Essays, Fabeln und ein Gedicht
Absorption kommt also als Anthologie daher, ist aber keinesfalls nur eine Sammlung von Kurzgeschichten. Zwar gibt es durchaus traditionelle Kurzgeschichten, aber die Sammlung enthält ebenso Fabeln sowie Texte, die eher Essays als Kurzgeschichte sind. Das ist grundsätzlich weder gut noch schlecht, aber sei vorangestellt, damit jeder weiß, worauf er sich bei der Lektüre einlässt.
Neben handlungsgetriebenen Thrillern und augenzwinkernden Horrorgeschichten enthält Absorption mit „Das Königreich” tatsächlich auch eine waschechte Fabel, in der die Figuren Personifikationen bestimmter Charaktermerkmale sind. Das verdeutlichen bereits ihre Namen, die von lateinischen Bezeichnungen bestimmter Emotionen abgeleitet sind: So erhofft sich in der Geschichte ein zweifelnder Herrscher Hilfe von seinen Beratern Timoria (Ableitung des Lateinischen „timor” = Furcht), Furoria (von „furor” = Zorn), Taedius („taedium” = Abscheu) , Fides (Vertrauen) und Melancholia (Schwermut). Mich persönlich hat diese Geschichte an die Fabeln von Ambrose Bierce erinnert, in denen beispielsweise Das Moralprinzip mit dem Materiellen Vorteil diskutiert, wer dem anderen Platz machen müsse. Ein wesentlicher Unterschied ist aber, dass die Geschichten Cushings deutlich positiver sind als die desillusionierend-zynischen Fabeln eines Bierces.
Storys wie „Kein Traum“, „Eine Laune der Natur” und „Der Spuk” folgen dem etablierten Aufbau von Kurzgeschichten. „Gesichter in der Menge” hingegen ist eine interessante philosophische Betrachtung aus der Ich-Perspektive, die man auch als Essay bezeichnen könnte. Und dann gibt es einige „Hybriden”, in denen zwar eine grobe Rahmenhandlung existiert, die aber in erster Linie in gedanklichen Monologen und Dialogen philosophische oder gesellschaftlich relevante Themen aufgreifen. Sozusagen Essays, denen man eine Rahmenhandlung als Feigenblatt mitgegeben hat.
Ich persönlich bin da eher ein Freund der reinen Lehre: Über Kurzgeschichten kann man die Leser meist emotional stärker packen, in Essays komplexe Themen ausführlicher beleuchten. Die Verknüpfung von beidem bremst meiner Meinung nach die Stärken der jeweils anderen Gattung aus. Das ist allerdings Meckern auf hohem Niveau, denn handwerklich sind die meisten Texte absolut überzeugend und haben mich gut unterhalten.
Melancholie und Hoffnung: Die Grundstimmung in Absorption
Ian Cushings Absorption ist nicht nur eine Sammlung unterschiedlicher Gattungen, das Buch vereint auch Geschichten zahlreicher Genres und Stimmungen. Die meisten behandeln Themen, die wir eher mit Negativem verbinden: Tod, Ausgrenzung, Verfall von Beziehungen oder Erinnerungsverlust. Aber dennoch sind fast alle Geschichten von einem positiven Grundtenor geprägt. Viele der Texte haben zudem klare moralische Botschaften, die auf eine bewusste Wertschätzung jener schönen Dinge abzielen, die oft als selbstverständlich hingenommen werden: Musik, der Genuss eines guten Drinks, die Beziehung zu den eigenen Mitmenschen. Die Textbotschaften zielen ab auf ein Innehalten und sich Besinnen auf das Wesentliche im Leben. Trotz der vorherrschenden Melancholie und Düsternis zeichnen sich die Geschichten somit immer auch durch eine gewisse Wärme aus.
Insofern wäre es falsch, Absorption als durchgängig ernstes, schwermütiges Werk zu bezeichnen. Insbesondere, da viele Geschichten von einer bewussten Überzeichnung von Stereotypen und einem oft heiteren Humor leben.
Für einige Leser vielleicht wichtig: Die Botschaften in Absorption sind klar und ziemlich direkt formuliert. Das ist eine erfrischende Abwechslung von der Gewohnheit vieler Autoren, nur Fragen aufzuwerfen und nicht selbst Stellung zu beziehen. Aber es führt auf der anderen Seite dazu, dass die Bewertung der Geschichten stark davon abhängt, ob man der Haltung des Erzählers zustimmt oder nicht.
Absorption: Auch stilistisch ein bunter Strauß an Geschichten
Obwohl ich Ian Cushings Anthologie auf meinem Blog zu den Themen Horror und Thriller rezensiere, bedeutet das keineswegs, dass sich alle Kurzgeschichten diesen Genres zuordnen lassen. Auf einige Storys mag das zutreffen, aber Absorption enthält ebenso Alltagsbetrachtungen und phantastische Erzählungen im märchenhaften Ton. Am einfachsten lässt sich meiner Meinung nach die unterschiedliche Tonalität der Geschichten an direkten Zitaten darstellen. So wird die Fabel „Ein Königreich” beispielsweise folgendermaßen eingeleitet:
Es war einmal ein Knabe, der herrschte gemeinsam mit seinen Eltern über ein eigenes Königreich; dieses Königreich war ein ein ruhiger und schöner Ort, an dem er sich wohlfühlte und nichts missen musste. Sein Vater und seine Mutter erzogen ihn streng und liebevoll und ließen ihn früh eigene Entschlüsse fassen, mahnten ihn dennoch unablässig, stets mit Bedacht vorzugehen. Seine Entscheidungen waren anfangs kindlicher Natur, aber nichtsdestotrotz von einer altklugen Vernunft geprägt […].
Diesem eher märchenhaften Sprachduktus stehen dann Geschichten wie „Beste Zeit” gegenüber, die sich am rauen Stil der Hardboiled-Krimis orientieren:
Johns rechter Arm und mindestens eine Rippe waren gebrochen und er wurde mit Blut vollgekotzt; aber den größten Ärger hatte er eindeutig von seiner Vorgesetzten zu erwarten, die nicht erfreut sein würde, dass er dem Zielobjekt die Kehle aufgeschlitzt hatte. That’s life. Ein Bösewicht weniger, ein Held mehr auf der Welt.
Viele Geschichten wirken vordergründig so, als würden sie alte Klischees und Schablonen nutzen. Doch häufig werden genau diese Klischees im Verlaufe der Geschichte gebrochen und die Storys bekommen eine interessante Wendung. Das Aufgreifen bestimmter Stilelemente ist bei Ian Cushing dabei eher Verneigung vor alten Film-noir- oder Horrorfilm-Klassikern als echtes Abkupfern. Überhaupt spürt man dem gesamten Buch die Liebe zu unterschiedlichen Musik, Film- und Literaturgenres an und so steckt Absorption voller Reminiszenzen.
Lediglich bei einer der letzten Kurzgeschichten des Bandes fehlt mir dieser Bruch mit den Stereotypen. Sie ist auch die konventionellste Erzählung in Absorption und übernimmt ironiefrei eine typische Schwäche vieler Horror- und Thriller-Geschichten: Einen Bösewicht, der am Ende in einem langen Monolog dem Opfer seine Backstory erklärt. Das ist insofern schade, dass Ian Cushing es in den vorangegangen Geschichten geschafft hat, zunächst als Klischee erscheinende Inhalte durch interessante Twists eine neue Bedeutung zu verleihen.
Schlaglichter auf einzelne Kurzgeschichten aus Absorption
Im Folgenden werde ich einige Geschichten aus Absorption vorstellen, um die Bandbreite dieser Anthologie zu verdeutlichen. Wer eine Rezension sucht, die ausführlicher auf sämtliche der 13 Texte eingeht, der sollte einen Seitenblick auf Phantastische Fluchten riskieren. (Aber natürlich erst, nachdem ihr meine Rezension zu Ende gelesen habt! Ich will ja nicht meine eigenen Leser wegtreiben. ^^)
- Kein Traum: Ein Mann begegnet dem leibhaftigen Tod. Weil die beiden sich aber recht sympathisch sind, gewährt der Tod der Hauptfigur noch einen Aufschub. Anders als beispielsweise in „Das siebente Siegel” versucht der Held dieser Geschichte aber nicht, das Unausweichliche um jeden Preis aufzuhalten. Er möchte lediglich einen bescheidenen Wunsch erfüllt bekommen. Eine intelligente Mahnung, das Schöne im Leben nicht erst zu zu genießen, wenn selbiges sich dem Ende zuneigt. Und ein starker Auftakt dieses Buches.
- Jenseits der Purpurnacht: Eine märchenhaft-fantastische Geschichte um ein unglückliches Liebespaar, dem der Vater den Segen verweigert. Die Hochzeit erscheint dadurch unerreichbar und der verliebte Jüngling entscheidet sich für einen drastischen Ausweg. Eine Geschichte über zwischenmenschliches Miteinander, Verfehlungen und Verzeihen. Dies ist aber auch eine Geschichte, bei der das eigene Urteil stark davon abhängt, ob man die Bewertung des Erzählers bzw. das Fazit der handelnden Hauptperson nachvollziehen kann oder nicht. Und so sehr ich Ian Cushing und seine Geschichten auch mag, bin ich selbst etwas unnachgiebiger in meiner Haltung und halte es eher mit Milan Kundera: Wenn alles verziehen wird, dann ist letztlich auch alles auf eine zynische Weise erlaubt! Ich selbst hätte ich den weinerlich, selbstmitleidigen Arschloch-Protagonisten wahrscheinlich in Beton gegossen, um endlich meine Ruhe zu haben. Vielleicht sagt das aber mehr über mich selbst aus als über die Geschichte. Falls ihr sie auch gelesen habt, erzählt mir doch bitte in einem Kommentar, was eure Gefühle beim Lesen waren.
- Eine Laune der Natur: Wer die Klassiker der gotischen Horrorliteratur gelesen hat und die alten Universal-Monster-Filme schätzt, der dürfte diese Geschichte lieben. Eine humorvolle Erzählung, die zeigt, dass richtiges Marketing auch für Ungeheuer wichtig sein kann.
- Beste Zeit: Eine meiner Lieblingsgeschichten aus Absorption. Sie spielt gekonnt mit Perspektivwechseln und ihrem actiongeladenen Einstieg folgt eine Story, die mich emotional stärker gepackt hat, als es jeder hardboiled Krimi geschafft hat.
- Versteckspiel: Diese Kurzgeschichte ist in gewisser Hinsicht das Kondensat der Themen in Absorption: Liebe, Tod, Vergänglichkeit menschliches Miteinander. Eine Huldigung all jener Beziehungen, in denen sich zwei Menschen seelisch miteinander verbunden fühlen. Was ich sehr schätze: Ian Cushing verengt diese Art von Seelenverwandtschaft nicht nur auf romantische Paarbeziehungen, sondern verdeutlicht, dass sich seelische Verbundenheit in verschiedensten Konstellationen zeigen kann.
- Man erntet, was man sät: Die Stärke dieser Geschichte ist definitiv die Figur Hank, der versoffene, aber scharfsinnige Kneipenphilosoph und Mann für direkt vorgetragene Wahrheiten. Diese Kurzgeschichte ist eine satirische Abrechnung mit rassistischen Strömungen in der aktuellen Politik. Aber so sehr ich Hank auch mag, ist mir die Geschichte in der Gestaltung zu plakativ. Hank hat die guten Argumente und seiner Gesprächspartnerin (die deutlich erkennbar ein reales Vorbild hat) werden im Sinne der geplanten Botschaft eben die schlechteren Antworten in den Mund gelegt. Dabei halte ich Plädoyers gegen Rassismus durchaus für sinnvoll. Aber wenn es um eine rein argumentative Entlarvung der Doppelmoral rechter Politiker geht, während kaum äußere Handlung stattfindet, dann ist das meiner Meinung eher der Stoff für ein scharfzüngiges Essay statt für eine Kurzgeschichte.
Meine persönlichen Lieblingsgeschichten aus Absorption sind „Kein Traum“, „Beste Zeit” und „Versteckspiel“. Bei „Man erntet, was man sät” ist es letztlich Geschmackssache, ob man politische Botschaften eher subtil mag oder sie lieber so direkt eingeschenkt bekommen möchte wie Hank sein Bier. Lediglich die Abschlussgeschichte „Der Spuk” schwächelt meiner Meinung nach ein bisschen bei der Darstellung des stereotypen Antagonisten. Sie passt hinsichtlich des Endes auch nicht so gut zu den anderen Geschichten der Anthologie. Davon abgesehen können jedoch fast alle Texte handwerklich überzeugen. Und jeder einzelne bietet Anregungen für etliche Stunden philosophischen Grübelns.
Fazit: Ein einzigartiges Sammelsurium, mit schwer einzugrenzender Zielgruppe
Ich sag es geradeheraus: Ich mag Absorption. Ich mag nicht jede der enthaltenen Geschichten, aber in ihrer Gesamtheit behandelt diese Anthologie auf interessante Weise zahlreiche Themen, die jeden Menschen früher oder später betreffen: Alter, Tod, Vergänglichkeit, Beziehungen, Verlust, Schuld und Hoffnung. Und was ich besonders an Absorption mag, ist, dass Ian Cushing trotz seiner bedrückenden Themen nie ins Horn der fatalistisch jammernden Schwarzmaler bläst, in deren Geschichten die Menschheit per se immer schlecht, verdorben und bar jeder Hoffnung ist. Vielmehr erinnern die meisten seiner Geschichten an das Positive im Leben, das man angesichts unserer Vergänglichkeit umso bewusster genießen sollte.
Doch kann ich Absorption nun rückhaltlos jedem empfehlen? Die Antwortet lautet: Nein. Denn Absorption ist in höchstem Maße heterogen, sowohl was die Themen, die Tonalität und die Gattungen der Geschichten betrifft: Fabel steht neben Gedicht und neben Horrorthriller. Manch einer findet solche Mischung interessant, aber jene, die sehr enge und klar abgesteckte Literaturvorlieben haben, dürften Schwierigkeiten mit Absorption haben. Auch die sehr direkten moralischen Botschaften sind sicher nicht jedermanns Sache. Wer aber offen für unterschiedliche Genres ist und Storys erleben möchte, die ernste Themen mal auf augenzwinkernd unterhaltsame, mal auf spannende Weise anpacken, der sollte Absorption unbedingt eine Chance geben.