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Virginia Anemona hat ihr drittes Buch veröffentlicht. Wer ihre Bücher »Ajena und der Wasserperlenbaum« und »Ajena im Raum der Spiegel« kennt, wird ahnen, auf was er/sie sich einlässt, wenn das Buch mit dem wundervollen Titel »Der Mann, dessen Badewanne im Garten steht« aufgeschlagen wird. Virginia hat die Geschichte mit den Worten »dramatischer Entwicklungsroman mit übersinnlichem Touch« beschrieben. Und das trifft den Nagel auf den Kopf.
Wir begleiten den jungen Alexander, der ein Leben wie im Knast führt. Die strengen Regeln seiner Eltern lassen ihm kaum Raum zum Atmen; doch er findet seinen Weg, um mit der eingeengten und spaßlosen Welt fertig zu werden. Seine Phantasie und Mut, die Regeln zu brechen.
Dadurch trifft er auf skurrile Weise auf seinen Nachbarn Kurt. Kurt ist der komplette Gegenentwurf zu den Eltern. Er ist verständnisvoll, liebevoll und ein echter Freund. Während Alexander bei seiner Familie schlichtweg wie eine Maschine zu funktionieren hat, darf er bei Kurt sein, wie und was er ist.
Kurt ist mehr Vater und Mutter für den Jungen, als die leiblichen Eltern. Er steht ihm in schwierigen Situationen bei, lehrt ihn Dinge, nimmt ihn ernst. Und auch der verschlossene Rentner öffnet sich dem Jungen gegenüber. Die beiden haben einander einfach gebraucht.
Als Joel und Billy auf den Plan treten, erhält die Geschichte eine düstere Wendung. Und ja … es werden Themen behandelt, die mir unter die Haut gegangen sind. Mehr möchte und werde ich inhaltlich dazu nicht sagen, gehe am Ende des Textes aber kurz darauf ein.
Durch Kurts Verbindung zu seiner verstorbenen Ehefrau Anne hält das phantastische Element Einzug in die Geschichte und ich bin begeistert, wie harmonisch und unaufdringlich Virginia diesen Teil in die (leider äußerst) realistische Geschichte integriert. Genau diese Art von Büchern liebe ich: Geschichten, deren in der Realität basierenden Ereignisse durch unerklärliche Phänomene verändert werden. Dezent, aber essentiell. Großartig. Die Szene, in der das phantastische Element eskaliert, habe ich begeistert verschlungen! Ihr werdet wissen, was ich meine … Ganz großes Kopfkino!
Zugegeben, die vielen Umarmungen zwischen Kurt und Alexander haben mich erst ein wenig skeptisch gemacht – in einer Welt wie unserer vielleicht sogar nicht zu unrecht –, aber eigentlich beschreibt Virginia Anemona nur geschickt, dass das Kind Alexander etwas bekommt, was es dringend zum Aufwachsen benötigt, und eigentlich in seiner Familie erfahren sollte: Liebe, Zuneigung und Freundschaft. (Zum »Liebe und Freundschaft« hat Virginia auch einen eigenen Beitrag in den sozialen Medien verfasst, der genau das thematisiert.)
Ein wenig habe ich mit den Ereignissen am Ende gehadert. Das Erleben einer Geschichte ist eine vollkommen subjektiv empfundene Sache, und doch denke ich, die unerwartete, dramatische Wendung, hätte etwas mehr Raum verdient oder gar nötig gehabt; doch dann wäre es nicht bei den ohnehin schon über fünfhundert Seiten geblieben und der weitere Verlauf der Geschichte entschädigt in allen Belangen.
Die Charaktere sind toll gezeichnet; man liebt die einen, hasst die anderen. Jede Figur hat ein eigenes Profil und man versinkt in der Geschichte, was durchaus schmerzhaft und unangenehm, aber auch erheiternd und wunderbar sein kann.
Die Sprache, die sie bei der Erzählung der Geschichte benutzt, ist den Figuren und Umständen angepasst. So wechseln sich klare Beschreibungen mit wunderschönen, poetischen Sätzen ab, die das Staunen, das Empfinden der Personen wundervoll auf den Punkt bringen.
»Ob eine Schneeflocke wohl auf ihre Art fühlen kann? Wie lange mag ihr Leben andauern? Oder lebt sie unendlich? Erst fällt sie, dann landet sie im Schnee, sort wohnt sie eine Weile, bis der Schnee zu Wasser zerfließt und von der Erde und ihren Gewächsen aufgesogen wird. So verschwindet die Schneeflocke nicht, sie verändert nur ihre ursprüngliche Form.«
Wenn eine Autorin es vollbringt, dass der Blutdruck steigt und man vor Wut in den Tisch beißen will, wenn bestimmte Personen auftreten und man deren Verhalten so unglaublich schrecklich empfindet (Stichwort: Kaffeekränzchen), hat sie alles richtig gemacht.
Die Umsetzung des Buches ist extrem gelungen. Das Cover, welches eine Badewanne im Garten in der Nacht mit leuchtenden Blüten zeigt, könnte wohl kaum passender und schöner umgesetzt sein. Der Buchsatz garantiert (neben der flüssig erzählten Geschichte) einen reibungslosen Lesefluss; einige Illustrationen der Autorin und auch der Autorenkollegin Paola Baldin runden das professionelle Gesamtbild ab.
Die Themen, die Virginia Anemona zur Sprache bringt, sind schwere Themen. Themen an denen Menschen zerbrechen; doch sie zeigt uns, dass es Hoffnung existiert, wenn man sich den richtigen Menschen gegenüber öffnet und sie ins Leben hineinlässt. Wieder einmal hat sie bewiesen, wie empathisch sie mit traumatischen Erlebnissen und Themen umgeht, ohne zu moralisieren. Das ist eine Fähigkeit, die nicht viele Menschen besitzen. Sie schreibt wirklich besondere Bücher, die sich zu lesen lohnen.
Ich kann »Der Mann, dessen Badewanne im Garten steht« aufrichtig empfehlen, möchte aber nicht versäumen, auf die Content-Note hinzuweisen: »Dieses Buch behandelt einige schwere Themen, die für Menschen mit Traumahintergrund problematisch sein können.« Beispielhaft möchte ich folgende Schlagworte in den Raum stellen: körperliche sowie seelische Misshandlung, sexualisierte Gewalt, Suizidgedanken. Informiert Euch vorher auf der Homepage der Autorin, in den sozialen Medien oder natürlich bei der Autorin selbst über den Inhalt, wenn ihr sichergehen wollt.
In diesem Sinne sage ich: Danke, liebe Virginia Anemona, für dieses ganz besondere Buch.
PS: Die Tatsache, dass ich das Buch als Testleser vorab lesen und Virginia somit ein klitzekleines Stück auf dem Weg zur Veröffentlichung begleiten durfte, hat keinen Einfluss auf meine Meinung zu dem Buch.
[Es handelt sich bei „Meinen Gedanken zu anderen Büchern“ stets um meine rein subjektive Meinung als Leser und ich schreibe sie auf, weil mir danach ist. Das geschieht rein freiwillig.]