1137 Wörter aus meinem Buch „In Ewigkeit“
Mein VW-Bus zwinkerte mir zweimal zu, als ich auf die Fernbedienung der Zentralverriegelung drückte. Dieser Bus war eines der wenigen Relikte meiner Vergangenheit, welches ich bewusst in mein neues Leben mitgenommen habe.
Vor einigen Monaten
starb meine Ehefrau an einem Herzinfarkt und ich hatte mich neu
erfunden. Ich befürchte, das klingt schrecklich pathetisch, aber im
Großen und Ganzen muss man es so nennen.
Bereits vor dem Tod
meiner Frau hatte ich zaghaft und halbherzig damit begonnen mich zu
verändern, denn ich erkannte, dass ich meine Persönlichkeit den
Zwängen der Gesellschaft, Arbeit und der Rücksichtnahme auf die
Befindlichkeiten meiner Mitmenschen untergeordnet und somit beinahe
gänzlich erstickt hatte.
Bei allem Dienen
hatte ich vergessen, meine eigenen Leidenschaften, die mir
Zufriedenheit und im besten Falle einen kurzen Augenblick des Glücks
bescherten, zu kultivieren und auszuleben. Ich spreche dabei nicht
davon, dass ich jemals glaubte, die Welt verändern zu können oder
ein gefeierter und weltberühmter Fotograf oder Journalist zu werden;
es zählten jeher die kleinen Momente: Die Spannung, wenn ich auf
einem Ausflug in die Natur ein, an meinen eigenen Maßstäben
gemessen, besonders schönes Foto aufgenommen hatte und mich
entschied, es in einem Fotogeschäft ausdrucken zu lassen, um es
anschließend gerahmt im Wohnzimmer an die Wand zu hängen und ein
wenig Stolz und Befriedigung zu spüren, wenn ich es ansah. Keiner
meiner Freunde, und noch nicht einmal meine Frau, würde beim Anblick
dieses Bildes jemals so empfinden wie ich. Aber genau diese Momente
im Leben sind entscheidend.
Im Laufe der Zeit
erlosch diese Leidenschaft, weil sie mir keine Befriedigung mehr
verschaffte, so wie es mir mit meinen anderen Hobbys ebenfalls
erging. Alles was mir jemals Freude verschafft hatte, wirkte beinahe
über Nacht wertlos und die Glut der Leidenschaft, etwas zu kreieren
oder zu erleben, wurde unter dem alltäglichen Dilemma des Lebens
erstickt. Ich vermute, dass mir eine Depression oder Midlife-Crisis
in den letzten Jahren die Lebensenergie aussaugte.
Ich fühlte mich
gefangen in meinem eigenen Käfig und die Erkenntnis der Absurdität
machte mir das Leben schwer. Warum sollte man so viel Mühe und
Energie in das Leben stecken, wenn es doch unweigerlich mit dem Tod
endete?
Die Antwort war und
ist ganz simpel: Genau aus diesem Grund! Oft genug wurde bereits
umfassender, fundierter und intelligenter über den Sinn des Lebens
nachgedacht, spekuliert, philosophiert, aber ich habe für mich
herausgefunden, dass der Sinn ausschließlich darin bestehen kann, zu
verstehen und zu akzeptieren, dass der Tod uns unweigerlich erwartet
und dennoch nicht aufzuhören, seinen Träumen und Leidenschaften zu
folgen! Unser aller Bestreben sollte darauf ausgerichtet sein, die
eigene Persönlichkeit auszuleben und dabei so wenige Kompromisse wie
möglich einzugehen.
Ich wollte lernen,
meine Jahre sinnvoll zu nutzen und nicht unter dem selbsterwählten
Joch der Arbeit oder der Gesellschaft zu einem Roboter zu verkommen
und daher hatte ich meinen unerträglichen Job gekündigt. Tagein,
tagaus den Fußabtreter, Kasper und Problemlöser für die Kunden zu
spielen und deren Unverschämtheiten aus Servicegründen kommentarlos
ertragen zu müssen, wurde irgendwann einfach zu viel und ich zog die
Konsequenz. Bereits früh im Leben erkannte ich, dass es mir gefiel,
anderen Menschen hilfreich zu sein, denn es war meine Natur, aber ich
stellte mitunter meine eigenen Bedürfnisse zurück. Ich war gut in
meinem Job, keine Frage! Sogar verdammt gut! Aber was die Menschen
nicht sehen wollten oder, was ich als viel schlimmer empfand, als
selbstverständlich hinnahmen, war die Hilfe, die ich ihnen über das
Maß des Notwendigen hinaus zuteilwerden ließ. Dieser Punkt war
einer unter vielen, aber vielleicht sogar der schwerwiegendste: Es
hätte nicht wehgetan, einmal Danke zu sagen, mir für meine Mühe
ein wenig Wertschätzung und Respekt entgegenzubringen. Ich hätte
nie verlangt, dass sie mir ein Denkmal errichten, sondern ein
gelegentliches Danke und die Gewissheit, dass sie verstanden, dass
ich mich in ihrem Sinne mehr angestrengt hatte, als es normal war.
Die Lektion, die
mich die Jahre lehrten, war, dass man, wenn man seinen Job mit viel
Herzblut ausfüllt, aber keine Wertschätzung zurückgegeben wird,
schlussendlich ausblutet.
Statt Dankbarkeit
waren Faulheit, Gier und Neid so oft an meinem Schreibtisch zu Gast,
dass ich mir schon überlegte, einen Pfarrer zu bestellen, der die
Menschen auf den Pfad der Tugend bringen sollte. Leider glaubte ich
nicht an die göttliche Vergebung der Sünden und so blieb mir
lediglich die Vermutung, dass die Menschen schlichtweg so sind:
gierig, neidisch, faul und dumm. Es mag lediglich eine gefühlte
Wahrheit sein, dass die Menschen immer dümmer werden, aber ich
könnte hier jetzt so viele Beispiele aus meinem Arbeitsalltag
aufschreiben, dass an dieser Theorie kein Zweifel mehr bestünde.
Leider hatte ich über die vielen Jahre die Fähigkeit verloren,
darüber zu lachen.
Natürlich gab es
auch die Menschen an meinem Schreibtisch, die meinen und den
allgemeingültigen Moralvorstellungen entsprachen, bescheiden,
sympathisch und liebenswert waren, aber sie stellten lediglich eine
kleine Minderheit dar und konnten den Ekel, der über die Jahre meine
Seele mit einem schwarzen, klebrig-stinkenden Schlamm verklebt hatte,
nicht reinwaschen. Dieser Kampf gegen Windmühlen hatte mich über
die Jahre so ausgelaugt, dass ich in meiner Freizeit nur noch vor
mich hinvegetiert habe, empfindungsloser wurde und immer mehr das
Interesse an den Mitmenschen verlor. Lediglich einer Handvoll
Menschen gehörte meine Liebe und Loyalität und sie würden sich
immer auf mich verlassen können, wie ich mich auf sie verlassen
kann.
Meine Frau und ich
hatten uns eine kleine Summe angespart, denn aufgrund der Tatsache,
dass wir für unsere Arbeit lebten, fehlte uns die Zeit das Geld
auszugeben. Ich wusste, dass ich, wenn ich mein bescheidenes Leben
weiterleben würde, sicherlich einige Jahre mit den Ersparnissen
auskommen könnte. Was geschah, wenn das Geld ausgegeben wäre,
wusste ich allerdings nicht.
Mein altes Ich hätte
sich zu jeder Sekunde des Tages den Kopf darüber zerbrochen,
Tabellenkalkulationen aufgestellt und jeden Cent genauestens
verplant. Heute war ich in dieser Angelegenheit entspannter, denn es
würde immer eine Lösung geben und weitergehen. Es fühlte sich gut
an, nicht an die Zukunft zu denken, sondern mit beiden Beinen im Hier
und Jetzt zu stehen und zu schauen, wohin der Wind mich tragen würde.
Die Ereignisse der
letzten Monate brachten mich auf die Idee, eine Fünf-Minuten-Regel
einzuführen. Ich besaß schon immer das zweifelhafte Talent, bei
Fragen, Problemen oder sogar alltäglichen Aufgaben, alles
kaputtzudenken, da ich ein extrem entscheidungsunfreudiger Mensch
war, unablässig die Vor- und Nachteile gegeneinander aufwog und mich
so lange mit einer Entscheidung beschäftigte, bis ich manchmal nicht
mehr wusste, worin überhaupt das Problem bestand. Dazu, und das mag
noch viel schwerer gewogen haben, hatte ich immer Angst eine falsche
Entscheidung zu treffen, wobei es sich um eine abstrakte Furcht
handelte, denn auch wenn rückblickend einige Entscheidungen von
meinem heutigen Blickpunkt nur schwerlich vertretbar erscheinen,
haben sie mir nicht geschadet. Meine neue Regel war mir oft eine
Hilfe, mich zu entscheiden, denn wenn ich nicht in tagelange,
abstrakte Was-passiert-wenn-Gedankenspiele abdriftete, sondern in
fünf Minuten einen Entschluss fasste, blieb die Entscheidung immer
viel näher an meinem Bauchgefühl, anstatt zu einer
Vernunftentscheidung zu werden.